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Alte Welt, neues Leben

»Der Typ fährt ´n X5. Den lassen wir ganz bestimmt nicht vorbei!«

Kalle hatte leicht reden. Als die Fahrertür aufsprang, wusste Lola, dass der Typ Trouble bedeutete. Einer Planierraupe gleich rollte er mit dampfenden Backen auf sie zu. Ihr Blick wanderte zu Kalle, der mit eiserner Miene den Mann in Schuhen aus Krokodilleder fixierte. Lola festigte ihren Griff an dem Banner, als würde es ihr in dem anrauschenden Tornado Halt geben. You kill our future, we kill your traffic!, prangte in weißen Lettern auf orangenem Untergrund.

«Ihr verdammten Vollidioten! Macht sofort die Straße frei!«

Der Typ sah nach kurzem Prozess aus. Eine von der Kette gelassene Bulldogge.

»Piero, ich kann nicht…« Eine schrille Frauenstimme vom Beifahrersitz des SUV endete in einem schmerzerfüllten Schrei, der sich mit dem Hupkonzert eines anderen Autos vermischte. Lola blickte durch die Frontscheibe des SUV, wo sich eine Frau in den Türgriff krallte, als wollte sie ihn herausreißen. Die Frau versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen, bevor die nächste Welle sie in den Schmerz ziehen würde. Lola verstand sofort. Sie blickte zu Kalle, der auch für einen Moment verunsichert wirkte, doch dann grimmig das Gesicht verzog.

Der Kleber war noch nicht ganz fest. Noch konnte sie… Als ob Kalle ihre Gedanken gelesen hätte, durchbohrte er sie mit einem seiner Blicke. Es war genau diese Leidenschaft, dieses Feuer in seinen Augen, was Lola so an ihm faszinierte. Und ihr Angst machte. Nur durch Leidenschaft verändern wir die Welt. Selbst wenn es Leiden schafft. Seine Worte rauschten in ihren Ohren und umspülten sie. Die Straße um sie herum begann zu schwanken. Sie drohte im Asphalt zu versinken.

»Lola, wir kämpfen für etwas Höheres«, raunte Kalle ihr zu und packte noch fester an das grell orangeleuchtende Banner. »Sollen sie halt umdrehen und außen rumfahren!«

Dafür war es sehr wahrscheinlich zu spät. Kalle war sicherlich nicht in der Lage, die Situation so einzuschätzen wie sie, sonst hätte er so etwas nicht gesagt. Nicht mit dieser Härte in der Stimme. Oder?

Der Mann hatte sich von ihnen abgewandt und war zu seiner Frau geeilt. Die Autotür stand noch offen. Lola hörte das Stöhnen, es betäubte sie, hielt ihr Herz gefangen, als wäre sie ein Fisch an einem Haken. In einem verdreckten Fluss von pestizidausstoßenden Tankern. Dieser Tanker begann zu sinken.

»Hilfe! Ruft einen Notarzt!«

Die Stimme des Mannes hatte sich verändert. Der Zorn war der puren Verzweiflung gewichen.

Lola blickte auf den Boden, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Aber sie konnte Kalles Blick auf sich spüren, als sie ihre Hand von dem kalten Asphalt löste. Ihre Hand brannte, als hätte sie in eine Feuerqualle gepackt. Lola schluckte den Schmerz hinunter. Als würde sie durch Wellen rennen, stolperte sie zur offenen Fahrertür des SUV. Die Frau trug einen Mantel mit Pelzkragen. Lola klammerte sich an die Hoffnung, dass es sich um einen Kunstpelz handelte. Auf dem beigen Ledersitz zeichnete sich ein hässlicher dunkler Fleck ab.

»Ich kann Ihnen helfen«, sagte sie so ruhig sie konnte. »Ich bin Hebamme im 4. Semester.«

Dass sie ihr Studium gerade abgebrochen hatte, verschwieg sie. »Ich brauche das Erste-Hilfe-Set. Und holen Sie Ihrer Frau etwas zu trinken!«

Der Mann nickte ihr nur zu und rannte zum Kofferraum.

»Ich bin Lola und gemeinsam werden wir das schaffen.« Sie blickte in die Augen der verängstigten Frau, die ihre Worte wie einen Rettungsring an sich riss. Sie hatte viel Blut verloren. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Es war das erste Mal, dass Lola der Übergröße dieser Straßenpanzer etwas abgewöhnen konnte. Als mobile Kreißsäle eigneten sie sich definitiv besser als ihr Lastenrad. Der Mann war wieder zu ihnen getreten und wartete auf nächste Anweisungen. Von ihr. Der verdammten Vollidiotin.

»Zeigen Sie Ihrer Frau, dass Sie für sie da sind. Das ist das Wichtigste, was sie gerade tun können«, flüsterte Lola ihm zu, während sie die Latexhandschuhe aus dem Erste-Hilfe-Set überzog. Er nickte. Auf einmal verdrehte die Frau ihre Augen und ihr Kopf sackte zur Seite.

»Bleiben Sie bei uns!«, Lola packte das Kinn der Frau und blickte ihr in die Augen. »Wir schaffen das. Haben Sie mich verstanden?« Sie kam wieder zu sich und nickte langsam. Lola führte ihr die Flasche zum Mund. Jeder Schluck schien ein Kampf zu sein, doch er zahlte sich aus. Das frische Wasser tat ihr gut.

Die nächsten Minuten vergingen wie im Rausch. Die Schreie drangen wie ein fernes Nebelhorn zu Lola heran. Jeden Handgriff, den sie tat, jede Anweisung, die sie gab, erlebte sie wie in Zeitlupe. Der Mann streichelte seiner Frau über die Schulter und flüsterte ihr immer wieder Dinge zu, die Lola nicht verstehen konnte. Sie war berührt, wie liebevoll er sich um seine Frau sorgte und wie wenig um sein Auto. Ein erneuter Schrei. Die Frau griff nach Lolas Hand und drückte sie so fest, dass Lola beinahe auch zu schreien angefangen hätte. Und auf einmal war er da. Der winzige Kopf eines neuen Erdenbürgers.

»Sie haben es fast geschafft.« Ein letzter Kampfschrei. Dann stand die Zeit für einen Moment still. Erst das süße Rufen einer jungfräulichen Kehle riss sie aus ihrem Nebel.

»Es ist ein Mädchen«, murmelte sie und blickte zu der fremden Freundin. Die Frau griff nach ihrem Kind, griff nach dem Leben, was sie gerade zur Welt gebracht hatte. Dann wanderte ihr Blick zu Lola.

»Danke.« Es war nur dieses eine Worte, das die Frau unter Tränen hervorpressen konnte. Doch sie hatte ihr dabei tief in die Augen geschaut. Lola hatte die Welt dieser kleinen Familie gerettet.

Der Mann fuhr erst seiner Tochter und dann der Mutter durch das nasse Haar. »Sie ist wunderschön«, sagte er, während eine Träne über seine Wange lief. Viel zu sanft für einen Typ seines Formats. Aber er hatte Recht. Sie war wunderschön. Und sie war eine Kämpferin. Auf welcher Seite sie wohl stehen würde? Vielleicht auf beiden.

»Ich nehme an, wir hätten es auch ohne euch nicht rechtzeitig geschafft.« Die Worte des Vaters rissen sie aus ihren Gedanken. Sie konnte den Kloß in seinem Hals deutlich hören. »Lola, nicht wahr?« Alle Boshaftigkeit war verflogen. Lola nickte scheu. »Dann soll unsere Tochter auch Lola heißen.«

Lola musste weinen. Sie wusste nicht, ob vor Freude oder Traurigkeit. In was für einer Welt würde die kleine Lola aufwachsen?

Der Klang des Martinshorns ließ Lola aufsehen. Kalles und ihr Blick trafen sich. Mit der Hand, die noch eben am Boden geklebt hatte, winkte er dem anrauschenden Notarzt, in der anderen hielt er sein Handy. Das Banner lag neben ihm auf der Erde. Sie hob ihre Hand, als wollte sie einen Toast aussprechen. Auf eine bessere Welt.

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